Nie werde ich den Tag vergessen, an dem unsere Englischlehrerin einen Stapel Briefe in der Klasse verteilte, den sie von ihrer amerikanischen Kollegin zugesandt bekommen hatte. Wir sollten mitmachen bei einem Brieffreunde-Projekt und ich war, nachdem ich meinen Brief geöffnet hatte, sofort Feuer und Flamme: John war zwei Jahre älter als ich, kam aus Iowa und liebte Sportflugzeuge. Ich schrieb ihm etwa 40 Briefe, von denen 39 unbeantwortet blieben. Ich glaube, ich würde sogar zu weit gehen, wenn ich ihn als meinen Brieffreund bezeichnen würde, doch damals hatte ich mir in Gedanken schon das glückliche Leben auf einer Farm vorgestellt, als erfolgreiche Maisbauerin und einem Mann, der jede freie Minute mit seinen Jungs Sportflugzeuge steigen ließ. Was sich nach einer etwas zu langen Einleitung anhört, ist tatsächlich die Geschichte, warum ich als 12-Jährige mit größtem Eifer Englisch gelernt habe.

Brieffreundschaften sind ein viel zu unterschätztes Hilfsmittel, um eine Sprache zu lernen. Zum einen ist es ein bestärkendes Gefühl, wenn man sich in der Zielsprache unterhalten kann. Zum anderen lernt man spielend neue Vokabeln, denn man möchte ja schließlich jedes Wort verstehen, das der andere da an einen schreibt und sich auf der anderen Seite auch selbst so gut wie möglich ausdrücken. Gut ist, dass mit der schriftlichen Kommunikation alle Zeit der Welt hat, sich mit Grammatik und Wortschatz zu beschäftigen und so nicht dem Druck ausgeliefert ist, sofort sprachlich korrekt zu reagieren.

Die anderen Vorteile von Brieffreundschaften liegen auf der Hand: Süßigkeitenpakete zu Weihnachten und zum Geburtstag, Urlaubseinladungen und – wenn man es anders als ich richtig anstellt – eine jahrzehntelange Freundschaft. Heute würde man sich vermutlich eher E-Mails schreiben oder über eine Brieffreunde-Webseite kommunizieren… aber das Tolle ist: Für Brieffreundschaften ist man nie zu alt!

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