Babylonische Verhältnisse
Das Sprachengewirr in bei EU-Parlament und Co.
28 Mitgliedsländer hat die EU momentan. Veranstaltungen, Dokumente und Reden werden in 23 Sprachen übersetzt: Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Estnisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Irisch-Gälisch, Italienisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Slowakisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch und Ungarisch.
Zum Vergleich: Bei der NATO, die genauso viele Mitgliedsstaaten hat, gibt es nur zwei Verhandlungssprachen, bei der UNO in New York (190 Mitgliedsstaaten) bloß sechs. Das Recht jedes Abgeordneten, sich in seiner Muttersprache zu verständigen, kostet die EU jährlich über eine Milliarde Euro. Und die Dolmetscher Nerven.
Simultandolmetscher ist nach Jetpilot und Fluglotse der stressigste Beruf der Welt. Der kleinste Fehler kann böse Konsequenzen haben. Wenn man statt „Prophet“ zum Beispiel „Profit“ versteht. Oder überhaupt nur Bahnhof, weil die Abgeordneten mal wieder über die Krümmung von Gurken diskutieren und dabei Fachvokabular benutzen, das selbst professionellen Dolmetschern mit jahrelanger Berufserfahrung unbekannt ist. Ohne Pause muss der Übersetzer höchstkonzentriert sein. In einer Kabine über dem Konferenzraum sitzt er oder sie hinter einer Glasscheibe, vor einem Computer mit digitalem Wörterbuch – damit oben genanntes Szenario eben nicht passiert – und mit Kopfhörern auf den Ohren. Beziehungsweise auf einem Ohr, denn die meisten Übersetzer lassen eines frei, um die eigene Stimme zu hören. Mit nur wenigen Sekunden Zeitverzögerung müssen sie gleichzeitig verstehen, übersetzen und dabei möglichst sinnvolle Sätze formulieren.
Nicht immer sind Übersetzer aller Sprachen verfügbar. Dann kann es auch schon mal vorkommen, dass zum Beispiel der Übersetzer fürs Maltesische seinem französischsprachigen Kollegen zuhört, um dann selbst zu übersetzen. Das nennt man dann eine „Relais-Übersetzung“. Wenn bei einer Veranstaltung einmal alle 23 Sprachen angeboten werden, wird es in den Kabinen eng. Denn viele EU-Gebäude wurden gebaut, als die EU noch Europäische Gemeinschaft hieß und nur neun Mitgliedsländer hatte. Und sich noch niemand vorstellen konnte, dass „Europa“ einmal wirklich bis an die Grenzen der Türkei reichen würde.
Um die Kosten zu senken, hat die EU-Kommission das sogenannte „Demand and pay“-System eingeführt. Nur noch die wichtigsten Sitzungen werden in alle 23 Sprachen übersetzt, wer in den anderen Sitzungen seiner Muttersprache lauschen möchte, muss zahlen. Nach der Einführung dieser Regelung ging die Nachfrage zunächst zurück, steigt aber mittlerweile wieder, da die Staaten gemerkt haben, dass es unter Umständen billiger sein kann, für Dolmetscher zu bezahlen, als seine politische Botschaft missverständlich rüberzubringen.
Beim Europaparlament in Straßburg kann sich der Dolmetscherdienst nicht am Bedarf jeder einzelnen Sitzung orientieren. Denn jeder europäische Bürger hat das Recht, jede Sitzung des Parlaments im Internet in seiner Muttersprache mitzuverfolgen. Nach der letzten EU-Erweiterungsrunde hat sich die Arbeit für die Dolmetscher verdoppelt. 110.000 Dolmetschertage im Jahr werden für die Übersetzungen benötigt.
Das Durchschnittsalter der deutschen Übersetzer liegt momentan bei 50 Jahren. Viele werden bald in Rente gehen. Gute Jobaussichten haben junge Dolmetscher also. Es ist zwar einer der stressigsten Berufe der Welt. Aber auch einer der interessantesten. Denn in welchem anderen Beruf ist man live dabei, wenn Weltgeschichte geschrieben wird?
Haben Sie das Zeug zum Dolmetscher? Testen Sie hier Ihre Sprachkenntnisse.